Freitag, 16. Oktober 2009

Die Schuhe auf dem Sitz

"Schon banale Anlässe können genügen, einen an der eigenen Zivilcourage zweifeln zu lassen. Mobilisieren die Medienberichte von brutalen Übergriffen im öffentlichen Raum die Zivilcourage der Bürger, oder werden sie dadurch erst recht eingeschüchtert? Ich fürchte, das Letztere trifft zu.

Ein kleines, zum Glück harmloses Vorkommnis gab mir vor ein paar Tagen die Gelegenheit, das an mir selbst zu überprüfen. Auf dem Weg zurück von der Arbeit stieg ich in einen nur spärlich besetzten U-Bahn-Waggon. Nachdem ich mich gesetzt hatte, bemerkte ich einen sich in der Nähe fläzenden jungen Mann, der seine Beine wie selbstverständlich - wie mir schien, geradezu demonstrativ - auf der gegenüberliegenden Sitzbank ausgestreckt hatte, wobei er sich mit den Schuhen an der Lehne abstützte.

Mein erster Impuls war, ihn höflich auf zufordern, die Beine herunterzunehmen. Schließlich wollen dort demnächst ja noch andere Leute sitzen. Doch wollte ich es wirklich riskieren, von ihm dafür womöglich angepöbelt zu werden? Was würde ich dann machen? Klein beigegeben oder mich auf ein Wortgefecht einlassen? Und nun kamen mir unweigerlich die Berichte der jüngsten Zeit in den Sinn, wie aus scheinbar nichtigen Anlässen brutale Gewaltattacken folgten. Was, wenn es dieser junge Mann mit seinem provokanten Benehmen darauf angelegt hätte, an irgendjemandem seine Aggression auszulassen?

Der Gedanke, mich von einer solchen weit hergeholten Eventualität abschrecken zu lassen, ärgerte mich wiederum so sehr, dass ich nun beinahe erst recht etwas gesagt hätte. Doch da kam ein neuer Zweifel in mir auf. Vielleicht würde ich mich mit meiner Intervention nur lächerlich machen? Schließlich schien die anderen Fahrgäste das Verhalten des jungen Mannes ja auch nicht zu stören. Sie taten jedenfalls so, als sähen sie es nicht. Werde ich mit zunehmendem Alter etwa zum verbitterten Ordnungsfetischisten und Prinzipienreiter, der sich schon von geringsten Regelverletzungen in der Öffentlichkeit aus der Fassung bringen lässt?

Während ich noch so mit mir haderte, musste ich - nein, durfte ich aussteigen und mich der Situation entziehen. Draußen aber fühlte ich mich schlecht, als hätte ich es in projektiver Furchtsamkeit hingenommen, dass jemand dreist meine Privatsphäre verletzt. Denn die U-Bahn, die ich benutze und auf deren Bänken ich sitze, ist doch irgendwie auch mein ganz persönlicher Lebensbereich. Es gelang mir nicht, mir einzureden, ich würde in einer wirklich ernsten Situation bestimmt weniger zaghaft sein. "


Zitat: "Die Welt", "Meine Woche" von Richard Herzinger, 16.10.2009

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